Die Repressionen des Staates sind eine direkte Reaktion auf die wachsende Stärke der Zivilgesellschaft
OVD-Info bedeutet „Polizeiwache“, es ist eine „Wachhund“-Organisation, die für das Recht auf Versammlungsfreiheit kämpft. Legal und friedlich auf der Straße die eigene Meinung
kundzutun – das ist in Russland seit 10 Jahren nicht mehr möglich. Nach der Präsidentenwahl
damals vor 10 Jahren gab es die größten Protestaktionen, auf die der Staat mit brutaler Härte
reagierte, so dass junge Aktivisten damals spontan beschlossen, inhaftierte Freunde
aufzusuchen und die erreichten Informationen zu publizieren. So entstand ein Netzwerk, das
mittlerweile mit 75 Hauptamtlichen, mehr als 300 ehrenamtlich tätigen Anwälten und mehr
als 3.000 Freiwilligen zur größten Rechtsbeistandsorganisation Russlands angewachsen ist.
Mehr als 200.000 Abonnenten zählt ihre Website. Im vergangenen Jahr flossen fast 3 Mio.
Euro Spenden von über 100.000 Russen in ihre Kasse. Ihre Schlagkraft rührt von der klugen
Verbindung von journalistischer Recherche mit blitzschneller IT-Dienstleistung her: neben
der Hotline zu Verhaftungen und Nachrichten auf der Website bearbeitet ein juristisches
Computerprogramm selbständig Tausende von Mitteilungen, und ein automatischer Generator
richtet Beschwerden direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Was ist der Beweggrund für diese Initiative?
Der Vater eines der Mitbegründer gehörte zu den ersten Mitgliedern der Initiativgruppe, aus
der Memorial hervorging; er arbeitete als Menschenrechtsbeobachter in Tschetschenien, und
der Sohn war in der heimischen Küche Zeuge von dessen Gesprächen und Arbeiten mit
Kollegen. So war und ist Memorial ein Schlüsselpartner für OVD-Info, so dass dessen
Liquidierung eine Herkulesaufgabe an Umorganisation bedeuten wird. Im Unterschied zu
Memorial, das erst nach sorgfältiger Analyse den Status eines Verhafteten als politisch
verfolgt anerkennt, verbreitet OVD-Info rasch und ohne Berücksichtigung der jeweiligen
Ideologie des Betroffenen Informationen über ihn und die Gesetzesverstöße, denen er
ausgesetzt ist: „Es ist nicht unsere Sache, in welche Richtung das Land läuft, nach rechts,
links oder in die Mitte, aber wir wissen, dass für seine Entwicklung Freiheit gebraucht wird.“
Es geht um die konsequente Konzentration auf Verletzungen der Menschenrechtskonvention
in einer Zeit, in der Demonstrationsgesetze verschärft, Haft- und Geldstrafen gnadenlos
erhöht wurden. Die vielerorts installierte automatische Gesichtserkennung hat prinzipiell nicht
zur Minderung der Demonstrationsbereitschaft geführt, obwohl der Verlust des Arbeitsplatzes dabei droht. Der Gang vor ein Gericht, zu dem OVD-Info ermutigt, verändert das
Bewusstsein der Betroffenen sowie der Richter und Anwälte, und das Verbreiten von
Petitionen sorgt für Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit – auch im Kreml. Allerdings hat es
seit der Protestwelle gegen die Verhaftung von Nawalny keine Massenverhaftungen mehr
gegeben, so dass ein Test auf die Wirkung der Petition gegen die Abschottung von
Polizeistationen noch aussteht, wenn auch Einzelerfolge verbucht werden konnten.
Auch OVD-Info ist nun vom Stigma des „Ausländischen Agenten“ betroffen, das bei
Memorial die Vorstufe zum Verbot bedeutete. Aber die Rolle, „staatlich anerkannter
Staatsfeind“ zu sein, sei nicht die erste Krise, so Grigorij Ochotin, einer der Mitbegründer in
seinem Interview mit dem Deutschlandradio, schwieriger werde der Ersatz der helfenden
Infrastruktur von Memorial. Aber OVD-Info sei keine juristische Person und die Adressen
ihrer Aktivisten nicht bekannt, so dass eine Liquidierung nicht zu befürchten sei.
(Dieser Beitrag, der im „Rundbrief des Kuratoriums Städtepartnerschaft Bielefeld Welikij Nowgorod e.V.“ vom März 2022 veröffentlicht wurde, wurde uns freundlicherweise von der Verfasserin Brunhild Hilf zur Verfügung gestellt. An Quellen verweist sie auf ein Interview im Deutschlandfunk mit Aktivisten dieser NGO am 11.1.22 sowie Material von Memorial, in dem jüngst ein ausführliches Gespräch mit Grigorij Ochotin publiziert wurde.)